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Auf ein Wort (KW 14)

 Zu einem Einsiedler kamen Besucher und fragten ihn: Was für einen Sinn siehst du in deinem Leben in dieser Stille und Einsamkeit?“ Der Mönch war gerade dabei, im Klosterhof mit einem Eimer Wasser aus dem Brunnen zu holen. Er sagte zu den Besuchern: „Schaut in den Brunnen. Was seht ihr da?“ Sie schauten hinein. „Wir sehen nichts.“

Nach einer Weile, als die Oberfläche des Wassers sich beruhigt hatte, forderte der Mönch die Besucher noch einmal auf, in den Brunnen zu schauen. Als sie sich über den Brunnenrand beugten, fragte er sie: „Was seht ihr jetzt?“ Sie antworteten: „Jetzt sehen wir, wie sich der Himmel im Wasser spiegelt und wir sehen uns selbst.“

Seht ihr, sagte der Mönch, das ist die Erfahrung der Stille. Du siehst den Himmel. Du siehst dich selbst.“

Liebe Leserin, lieber Leser,

wie sehr hat sich der Alltag in den vergangenen drei Wochen verändert.

Für einige Menschen ist das Leben „seit Corona“ noch schneller geworden als zuvor. Wer in einem medizinischen- oder einem Pflegeberuf arbeitet, wer als Betreuungskraft in einem Pflegeheim tätig ist oder als Mitarbeiterin in einem Supermarkt, dem wird extrem viel abverlangt.

Für andere ist das Leben plötzlich langsam geworden. Vieles ist abgesagt. Im Kalender, der sonst den Alltag bestimmt, sind die meisten Termine durchgestrichen. Es finden auch kaum noch persönliche Begegnungen statt. Wir sollen ja möglichst zu Hause zu bleiben. Darum sind die Straßen leerer. Keine Kinder sind auf den Spielplätzen zu sehen, die Cafes haben zu. Sogar am Himmel sind weniger Flugzeuge. Langsamer und stiller ist es um uns herum.

Äußerlich ist es ruhiger als sonst. Und innerlich?

Die Geschichte des Einsiedlers erzählt von der Erfahrung der Stille. Wenn Alltag und Routine unterbrochen sind und vieles still steht – und sei es unfreiwillig, so wie jetzt - dann begegnen wir uns selbst plötzlich auf neue Weise. Und dabei sieht es unter Umständen in uns gar nicht ruhig, sondern aufgewühlt und unruhig aus. Vielleicht tauchen aus der Stille existenzielle Fragen auf.

Das kann angesichts der eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten die Frage sein: Welche Freundschaften, welche Beziehungen in meinem Leben tragen wirklich und haben Bestand?

Oder ist man getrieben von innerer Unruhe, weil jetzt vieles wegbricht, was sonst das Leben bestimmt hat: Die regelmäßigen Termine. Die Bestätigung, die einem die Arbeit gibt. Das Selbstverständnis vom Leben. Das Selbstverständnis von dem, wer man eigentlich ist. Vieles steht plötzlich in Frage

Vielleicht bringt die Stille auch ein Aufatmen mit sich. Erleichterung, dass die Uhren endlich langsamer gehen. Und gerade darin fühlt man, dass der Alltag sonst allzu oft an der Grenze der Belastbarkeit verläuft.

Manche alten Menschen werden durch die gegenwärtige Ausnahmesituation an frühere Krisenzeiten ihres Lebens erinnert. Schwere Zeiten und Ängste, die sie vor Jahren durchleben mussten. Und sie erzählen dann auch von dem, was ihnen geholfen hat. Von Zusammenhalt und von manchen Überlebenskünsten.

Wie auch immer - in der Stille begegnen wir uns selbst. Unterschiedliche Gefühle und Themen kommen an die Oberfläche. Vielleicht lösen sie Unsicherheit aus. Vielleicht spüren wir aber auch, dass diese Fragen wichtig sind und uns eine Richtung zeigen können.

Das ist die Erfahrung der Stille. Du siehst dich selbst. Und du siehst den Himmel,“ so heißt es in der kleinen Geschichte. Als die Besucher des Einsiedlers sich zum zweiten Mal über den Brunnenrand beugen, erkennen sie ihr eigenes Gesicht. Und sie sehen den Himmel, der sich im Wasser spiegelt.

„Über uns ist der Himmel“, erinnert uns diese Geschichte. Über uns, um uns ist Gott. Was auch immer uns umtreibt in dieser Zeit, Sorge um andere oder um uns selbst, Unruhe in unserer Seele, Zerrissenheit in den Gefühlen – in all dem sind wir auch jetzt von Gott umgeben und gehalten.

Gott ist uns nah mit seinen Worten in der Bibel. Mit seiner leisen Stimme in uns. Mit guten Worten, die wir einander sagen. Mit Zeichen, die wir wie einen Trost „vom Himmel“ erleben. Zur Erfahrung der Stille gehört es auch, dass Gottes Stimme besser zu hören, der Himmel besser zu sehen ist.

Ich empfinde es im Moment auch im ganz wörtlichen Sinn als wohltuend und stärkend, in den Himmel zu sehen. Wenn ich meine Runde im Wald gehe, sehe ich Bäume, die groß und alt sind. Sie weisen mit ihren hohen Kronen nach oben. Durch die Äste mit dem Frühlingsgrün leuchtet der Himmel, der über uns und über der ganzen Welt „gespannt“ ist. Das ist für mich ein Bild, das Hoffnung und Zuversicht gibt. Der Blick in den Himmel erinnert mich an die treue Gegenwart Gottes, die uns doch immer umgibt.

Ich wünsche Ihnen und den Menschen, die zu Ihnen gehören, Zuversicht und Gottes Segen.

Herzliche Grüße,

Ihre Pfarrerin

Kathrin Brozio

 

 

 

Psalm 63,9: Meine Seele hängt an dir; deine rechte Hand hält mich.

 

 

 

 

 


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