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AN(GE)DACHT

Liebe Leserin, lieber Leser,

was wäre, wenn...? Bestimmt kennen Sie auch dieses Gedankenspiel, mit dem man sich mal kurz in ein anderes Leben hinein denken kann: Was wäre, wenn ich die oder jene Entscheidung anders getroffen hätte? Oder wenn ich in einer anderen Zeit, unter anderen Bedingungen gelebt hätte?

Was wäre, wenn ich zum Beispiel 40 Jahre früher geboren wäre - und den Krieg miterlebt hätte, so wie die Generation meiner Eltern und Großeltern? In vielen Familien sind die Erinnerungen an diese Zeit noch lebendig durch die alten Menschen, die davon erzählen: Vom Hunger, von Flucht oder Vertreibung. Oder von den Ängsten um den Vater oder die Brüder, die im Krieg waren.

Oder: Was wäre, wenn ich nicht in Deutschland geboren wäre, sondern in Afrika oder Syrien? Wie würde ich leben? Hätte ich genug zu essen? Könnte ich meinen Glauben frei leben? Wäre ich noch am Leben?

Manchmal kommen mir solche Gedanken. Dann nehme ich wahr, was für ein unverdientes Glück es ist, dass ich nur Friedenszeiten kenne. Wie leicht hätte es anders sein können.

Was wäre, wenn... Auch die Bibel fordert zu einem Perspektiv-Wechsel auf: Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken, denn ihr wisst um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid (2. Mose 23,9).

Die Israeliten werden hier an ihre Geschichte, an eigene Erfahrungen erinnert: „Ihr wisst, wie sich Heimatlosigkeit und Schutzlosigkeit anfühlen. Ihr oder eure Vorfahren habt es selbst erlebt. Ihr könnt nachempfinden, wie es den Flüchtlingen ums Herz ist. Darum sollt ihr sie nicht unterdrücken.“

Sätze, die wir heute in der politischen Diskussion um die Aufnahme von geflüchteten Menschen hören, klingen oft anders. Die Sprache ist teilweise so zynisch und abfällig, dass man fast vergisst, worum es wirklich geht: Um Menschen, um ihr Überleben. Um Schicksale.

Die Bibel spricht eine andere Sprache. Sie weist auf die Verbundenheit zwischen Menschen hin, auf die Fähigkeit zum Mit-Fühlen: „Ihr wisst um der Fremdlinge Herz...“ Auch wenn wir

unter ganz anderen Bedingungen leben, kennen auch wir die Gefühle von Angst und Schmerzen. Und genauso teilen auch wir die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben in Freiheit und Frieden.

„Ihr wisst um der Fremdlinge Herz...“

Wichtig und schön finde ich diesen Satz. Er erinnert mich daran, was es heißt, Mensch zu sein:

Dass wir mit anderen fühlen können. Dass wir an unserem Platz Not lindern können. Und dass wir gemeinsam Gottes Kinder sind.

Ich wünsche Ihnen schöne Spätsommertage und grüße Sie herzlich,

Ihre Pfarrerin

Kathrin Brozio


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